Als kürzlich die aktualisierten Angaben zu Nebeneinkünften der Bundestagsabgeordneten veröffentlicht wurden, galt das Medieninteresse vor allem einer Politikerin: Sahra Wagenknecht. Die Frage, wenigstens zwischen den Zeilen, lautete: Kann jemand, der für ein Buch 720.000 Euro und für einen einzelnen Vortrag – ausgerechnet bei einem Schweizer Vermögensverwalter – 10.000 Euro Honorar erhält, linke Politik vertreten? Oder ist das Verrat an den eigenen Idealen?
Auch andere linke Politiker oder Gewerkschafter wie GDL-Chef Claus Weselsky mussten und müssen sich immer wieder vorhalten lassen, sie verdienten zu viel Geld oder lebten in zu schicken Häusern. Der Bundestagsabgeordnete, der die mit Abstand größten Nebeneinkünfte hat, muss sich solche Vorwürfe nicht anhören – denn der ist ja von der CSU. Und da werden Nebeneinkünfte nur dann skandalisiert, wenn sie mit fragwürdigen Machenschaften zu tun haben, wie im Fall der Maskendeals. Wird bei konservativen Politikern privater wirtschaftlicher Erfolg geradezu erwartet, während er bei linken verpönt ist?
Wie muss denn jemand leben, der für politisch linke Positionen eintreten will? Ist ein teures Essen erlaubt oder darf es nur Graubrot mit Margarine geben? Braucht es einen abgekämpften Arbeiter-Look oder ist Bekleidung okay, die auch auf einen Laufsteg passen würde? Und müssen Konservative immer Anzug tragen und teure Uhren?
Berufspolitiker sind kein Spiegel der Gesellschaft. Sie sind professionelle Vertreter von Lebensentwürfen und Zukunftswünschen. Sie sollen keine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung sein, sondern ihre Anwälte. Mit dem Mandat der Wähler sollen sie deren Interessen vertreten und mit den Anwälten anderer Interessensgruppen verhandeln. Entsprechend werden sie sich kleiden und öffentlich dort auftreten, wo sie ihrer Politik Gehör verschaffen wollen.
Darin unterscheiden sich Politiker nicht von anderen Interessens-Anwälten: von NGO-Vertretern, Wirtschafts-Lobbyisten, Gewerkschaftern. Der Sport-Funktionär muss kein guter Sportler sein, er muss die Interessen von Sportlern vertreten. Körperliche Fitness, Ernährung oder sonstiger Lebenswandel eines Sport-Vertreters haben in der öffentlichen Diskussion nichts zu suchen.
Anders sieht es aus, wenn solche Anwälte Forderungen an die Allgemeinheit richten. Wollen Politiker der Bevölkerung beispielsweise einen von ihnen für gesund erachteten Lebenswandel verordnen, dann darf man sie selbstverständlich persönlich auf den Prüfstand stellen. “Wasser predigen und Wein saufen”, sagt der Volksmund, wenn es da eine Diskrepanz gibt.
Man kann für radikalen Klimaschutz eintreten und trotzdem noch gelegentlich ein Auto oder gar ein Flugzeug benutzen. Wer allerdings von anderen ohne Ansehen ihrer Person und Situation ein klimaschädigungsfreies Verhalten verlangt, darf sich selbst davon nicht ausnehmen.
Ob der eigene Lebenswandel die Glaubwürdigkeit vertretener Positionen berührt, sollte davon abhängen, ob man für sich selbst oder für andere spricht.
Wer im gesellschaftlichen Diskurs anwaltlich auftritt, spricht für seine Mandantschaft – und wer nicht selbst hundert Prozent dazugehört, kann dabei nicht von “wir” reden. Als Jugendlicher war es mir regelrecht zuwider, wenn ergraute Herren “wir als Sportjugend” sagten oder “wir als Kreisjugendring”. Wer für Kinderrechte eintritt, wird in den meisten Fällen selbst kein Kind mehr sein und daher auch nicht “wir Kinder” sagen. Und Wagenknecht wird wohl nie sagen: “Wir Geringverdiener.” Aber sie kann sich genau für diese einsetzen. So wie Weselsky offenbar erfolgreich für die Bezahlung von Lokführern mit der Bahn streitet.
Wenn hingegen Politiker davon sprechen, jetzt müssten wir alle dies oder jenes tun oder lassen, dann erwarte ich, dass sie sich tatsächlich selbst einschließen. Ob mal wieder der Gürtel enger geschnallt werden soll oder die Opferbereitschaft fürs Vaterland gepriesen wird: Wer “wir” sagt und alle meint, muss mit gutem Beispiel vorangehen.
Timo Rieg, Deutschlandfunk Kultur, 4. Juli 2023