Taktisches Wählen

Glücklich, wer bei der Bundestagswahl am Sonntag seine zwei Kreuzchen bei der Partei seines Herzens setzen kann. Wer zuvor nicht lange nachdenken oder sich gar durch Parteiprogramme lesen musste, sondern aus fester Überzeugung und mit bestem Gewissen abstimmt,  – im Doppelpack, also sowohl für die Partei als auch deren Wahlkreiskandidaten, wenn es einen gibt.Doch die Stammwählerschaft schrumpft. Zudem ist ein Viertel der Abstimmenden  kurz vor dem Wahltag noch auf keine Partei festgelegt. Nicht wenige entscheiden sich sogar erst in der Wahlkabine. Von Herzen kommen solche Stimmen wohl nicht.

Wie soll man sich entscheiden, wenn einem keine Partei oder kein Direktkandidat zu hundert Prozent passt? Die meisten wählen dann, was den eigenen Überzeugungen wenigstens am nächsten kommt, – zur Not auch nur das geringste Übel.

Politologen nennen das dann immer noch aufrichtiges bzw. ehrliches Wählen: angekreuzt wird das inhaltlich Beste, das zur Auswahl steht.

Anders entscheiden sich taktische Wähler: Sie spekulieren über die Zusammensetzung des neuen Parlaments oder der neuen Regierung – und wie diese mit dem eigenen Stimmzettel noch beeinflusst werden könnte. Taktische Wähler antizipieren das Wahlverhalten ihrer Mitbürger und machen die eigene Stimmabgabe davon abhängig. Man könnte sie daher auch im Kontrast zu den aufrichtigen als „unehrliche Wähler“ bezeichnen.

Unter dem taktischen Wählen leiden am meisten solche Kleinparteien, die den Prognosen nach an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern werden oder scheitern könnten. Um sich im Parlament vertreten zu fühlen, stimmen taktische Wähler dann für eine der größeren Anbieterinnen – womit je nach Hochrechnung schon 37 der 41 bei dieser Bundestagswahl kandidierenden Parteien keine Option mehr sind, ungeachtet ihrer Inhalte.

Aber auch großen Parteien gehen durchs Taktieren Stimmen verloren. Aller Voraussicht nach wird die nächste Regierung wieder eine Koalition sein, mit CDU/CSU als eindeutig stärkster Kraft. Sympathisanten der Union können daher mit ihrer Stimme für eine andere Partei einen möglichen Koalitionspartner pushen. Ein Vorgehen, das unter dem Stichwort „Leihstimmen“ vor allem mit der FDP verbunden ist.

So gesehen schafft taktisches Wählen ein Repräsentationsproblem: das Parlament bildet dann nicht die Parteienpräferenz der Wähler ab.

Allerdings geht es beim Wählen aus demokratischer Sicht zunächst gar nicht um Parteien, sondern darum, die eigenen Interessen möglichst erfolgreich durch Abgeordnete und eine von diesen getragene Regierung vertreten zu lassen.

Unser Wahlsystem zwingt regelrecht dazu, dass dabei jeder seinen eigenen Weg zum Erfolg sucht. Wir stimmen nicht über einzelne Sachfragen ab, wir wählen keine Regierung, Parteien verzichten auf verbindliche Koalitionsaussagen. Und mit dem geänderten Wahlrecht ist nicht einmal sicher, ob ein Wahlkreisgewinner auch in den Bundestag kommt.

Wer mit keiner Partei fest liiert ist, muss also abwägen: Riskiere ich meine Stimme für FDP, Linke oder BSW, die alle um die fünf Prozent stehen? Möchte ich auf der Seite der Gewinner sein und schließe daher Parteien aus, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht an der Regierung beteiligt sein werden?

Oder glaube ich,  dass auch eine starke bzw. vielfältige Opposition meine Interessen erfolgreich vertreten könnte? Dass sogar kleine Parteien außerhalb des Parlaments an der politischen Willensbildung mitwirken?

Es sind sehr viele Unbekannte im Spiel. Man kann taktisches Wählen daher auch als Zocken sehen, als Wetten auf das Verhalten anderer Wähler und der dann gewählten Politiker.

Ist ein solches Taktieren einer Demokratie würdig?

Aber sicher doch! Denn noch einmal: Es geht um meine Eigeninteressen als individueller Bürger. Wo, wenn nicht bei der Wahl, sollte ich völlig frei sein in der Entscheidung, wie ich diese Eigeninteressen in Spiel bringe – und da sollte das eine nicht als wertvoller gelten als das andere.

(Timo Rieg, Politisches Feuilleton)

 

 

 

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