Es war der hartnäckig vorgetragene Wunsch unserer Gäste, der uns letztes Wochenende in den Wald führte. Meine Verantwortung beschränkt sich auf die Fabrikation des zuvor genossenen Kuchens, für den ich die noch aufgefundenen schrumpelige Kelleräpfel vom Herbst mit Quark der Vollfettstufe aufzupeppen versucht hatte. Meine Argumentation, eine Stunde Ruhe auf den Sofas käme der Natur des Menschen am nächsten, verfing nicht.
An die erst mögliche Waldparzelle brachte uns, wie wohl die meisten Städter, das Auto. Bei Anreise zu Fuß hätte sich die weitere Bewegung dort locker erledigt, jedenfalls vom avisierten Sportpensum her.
Doch am vorgesehenen Parkplatz, an dem normalerweise allenfalls ein LKW-Fahrer seine gesetzliche Ruhezeit nimmt oder ein Autofahrer Wasser abschlägt, standen die PKW bereits bis auf die Bundesstraße. Nach einigem Rumgegurke fanden wir einen Feldweg, der vom Wald etwas weniger weit entfernt war als unsere Wohnung, und parkierten.
Noch bevor wir den Wald sehen konnten, hörten wir ihn. Quengelnde Kinder übertönten die fröhlich tobenden, Radfahrer brüllten lauter „Achtung“ als die Eltern der Quengelkinder „nein“, frühlingslüsternes Gebell konkurrierte mit der Anweisung, den Hund gefälligst an die Leine zu nehmen.
Wir stürzten uns zwecks Erholung und Kuchen-Verdauung ins Getümmel. Der abzumarschierende Weg war weithin sichtbar, nicht nur, weil unsere Wälder als forstwirtschaftliche Plantagen in lebenslangen Baumschulklassen nach Alter sortiert gehalten werden und damit wenig Unterwuchs aufweisen, sondern auch, weil der Wald noch gar nicht so recht Wald sein wollte und – von zwei, drei Fichten und Douglasien abgesehen – völlig blattlos Sicht und Akustik freigab.
Mit unserem Besuch diskutierten wir, wie man diese Volkswanderung ordnungspolitisch entzerren könnte. Durch eine Entnahme der Schilder, die das Verlassen der Wege verbieten, war eine der Ideen. Was kann schon der Fußabdruck selbst eines korpulenten Menschen oder die Reifenspur eines Gravel-Bikers schaden im Vergleich zu einem 20-Tonnen Harvester, dem Holzvollernter, der das auf erneuerbarer Energie laufende Rückepferd ersetzt hat?
Der Einwand war natürlich, man beeinträchtige die schon oder noch vorhandene Fauna, wenn ein jeder kreuz und quer durch den Wald läuft. Wobei sich die Frage stellt, was zuerst da war: der Wald oder der vom Forstbetrieb befestigte und von der Stadtreinigung gewienerte Waldweg.
Eine andere Idee kam uns, als uns eine Hupe zur Seite springen ließ: Ein Eisverkäufer pflügte mit seinem Verkaufsbus durch die Menschenmasse, um in der Mitte der nächsten Wegkreuzung seinem Geschäft nachzugehen. Vielleicht braucht es nur mehr solcher Hot-Spots, jeweils am Rande des Waldes platziert, um einen Teil der Menschen vom tieferen Waldbaden abzuhalten?
Die längste Zeit dieser Diskussion verbrachten wir in unserem Auto, darauf wartend, dass auch die inzwischen hinter uns parkenden Fahrzeuge wieder von ihren Besitzern beansprucht würden.
Meine persönliche Lösung des Problems „Volksauflauf im Wald“ habe ich schon dort im Wagen vorgetragen, und ich verrate sie Ihnen gerne, weil die Gefahr von Nachahmung gering ist: Man nutze den Wald gegenüber seinen Mitmenschen antizyklisch.
Denn wenn mich kein Besuch, sondern nur meine Hunde dazu nötigen, dann bin ich ausschließlich nachts im Wald zugegen. Am liebsten bei bedecktem Himmel, ohne Mond, weil man denn auch vor der letzten Waldfrieden-Störergruppe sicher ist: den Jägern. Der Polizei musste ich mich zwar auf dem um Mitternacht stets leeren Parkplatz schon mehrmals erklären, warum ich nicht – so der Vorwurf – wie jeder normale Mensch bei Tag spazieren gehe. Aber ansonsten hat man seine Ruhe.
Nur einmal wurde in den vergangenen 20 Jahren mein Waldglück kurz gestört. Es war finster, wie ich es liebe, und stellen Sie sich gerne noch etwas Nebel vor, wenn ich den auch nicht beeiden würde. Mich mit den Hunden alleine wähnend, lief ich strammen Tempos und mit einem Podcast auf den Ohren meinen Weg.
„Ups“, stieß plötzlich neben meiner noch eine mir völlig unbekannte Stimme zeitgleich hervor. Nur mein Bauch hatte einen Zusammenstoß unserer Nasenspitzen verhindert. Ohne weiteres Aufheben zogen wir, ein jeder rechts am anderen vorbei, unserer Wege.
(Timo Rieg, Deutschlandfunk Kultur)