Wer will was von wem wozu? – Demokratische Aushandlungsprozesse neu denken

Vorletzte Woche verhängte Schleswig-Holstein eine Haushaltssperre. Denn nach neuster Steuerschätzung fehlen dieses Jahr 400 Millionen Euro, nächstes Jahr sogar 600 Millionen. Doch prompt protestierten Gewerkschaften, Sozialverbände und Opposition gegen den Sparkurs. Was sie allerdings nicht sagten: von wo das fehlende Geld kommen soll, konkret: wem sie es aus der Tasche ziehen wollen.

Die Nachrichten sind voller Forderungen: Gruppen beanspruchen Leistungen, fordern Gebote und Verbote. Weil solche Forderungen fast immer an “die Politik” oder “den Staat” gerichtet sind, wird etwas Entscheidendes dabei nicht sichtbar: Von wem genau möchte da eigentlich jemand etwas? Und ist dieser Jemand mehr als die Spitze eines Lobbyverbands?

Dabei kann man doch nur miteinander verhandeln, wenn die Betroffenen bekannt sind. Und demokratisch sollte es auch nur dann für die Allgemeinheit etwas zu verhandeln geben, wenn sich die Betroffenen selbst nicht einig werden. In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt es: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.”

Im Grundgesetz lautet die Formulierung: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.”

Es könnte etwas mehr Klarheit in unsere Debatten bringen, wenn wir stets klären würden: Wer will was von wem wozu warum?

Wie ist das beispielsweise beim Flugverkehr und dessen möglicher Begrenzung? Da will  der Flugreisende eine ganze Menge  von vielen Leuten. Er braucht Platz für mindestens zwei Flughäfen, von denen einer bei Fernflügen im Ausland liegt. Er möchte die endliche Ressource Erdöl als Kerosin verbrennen und damit unter anderem Stickoxide und CO2 in die Luft blasen. Er möchte eine Menge Fluglärm machen. Und er möchte eine kaum bestimmbare Menge Menschen dem – wenn auch sehr geringen – Risiko aussetzen, vom Absturz seines Flugzeugs betroffen zu sein.

Wenn nun im Kontext des Klimaschutzes über Flugverbote oder CO2-Budgets gesprochen wird, will die Verbots-Fraktion nur dann etwas vom Fernreiselustigen, wenn dieser bereits mit allen von seinem Verhalten Betroffenen einen fairen Deal geschlossen hat. Weil das natürlich nicht der Fall ist, wird im Lichte der “Wer will was von wem wozu warum”-Frage deutlich, dass nicht eine Verbotsabsicht rechtfertigungspflichtig ist, sondern das Fliegen. Wir haben uns nur schon immer das Recht herausgenommen, mit den von unserer Lebensweise negativ Betroffenen insbesondere in anderen Ländern einfach nicht zu verhandeln, sondern sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Wie ist das mit dem derzeitigen Cannabis-Verbot? Im einfachsten Fall möchten Marihuana-Raucher mit eigener Hanf-Pflanze auf dem Balkon von niemandem etwas. Aber irgendwelche anderen Menschen fordern von ihnen den Verzicht auf ihren Rauschmittelkonsum. Was bietet die Cannabis-Verbots-Fraktion den Konsumwilligen, damit sie den Deal eingehen können, ja billigerweise eingehen müssen? Bisher nichts, weil die ganze Debatte auf dem Kopf steht: Es braucht keine Argumente für eine Entkriminalisierung, sondern es braucht Argumente für die Prohibition.

Ampeln sind für bzw. wegen Autos und LKW da. Fußgänger brauchen sie so wenig wie Radfahrer. Aber was bieten Autofahrer den von ihren Ampeln eingeschränkten nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern als Deal an? Nichts.

Wer wegen der alternden Gesellschaft Barrierefreiheit allüberall fordert, wer mehr Polizei auf der Straße oder ein Heimatmuseum in seinem Dorf haben möchte, muss schon sagen, von wem genau er das Geld dafür nehmen möchte und was der Zahlungspflichtige dafür erhält.

“Wer will was von wem wozu warum”? Damit lässt sich zwar erstmal vieles problematisieren, was bisher als selbstverständlich gilt. Es wird allerdings auch klar: wo sich alle Betroffenen einig sind, gibt es keinerlei Anspruch für Unbeteiligte, sich mit Regelungen einzumischen.

Timo Rieg, Deutschlandfunk Kultur, 2. Juni 2023

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