Medienkritik zur Aiwanger-Berichterstattung

Wir haben uns die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung zu einem Flugblatt angesehen, das vor 35 Jahren an einem bayerischen Gymnasium aufgetaucht ist und mit dem stellv. Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger in Verbindung gebracht wird. Dazu gibt es u.a. einen Kommentar beim Deutschlandradio (Manuskript nachfolgend). Eine textliche Einschätzung mit umfangreicher Materialsammlung liegt im Medienblog SpiegelKritik vor: „Medienkritik zur Berichterstattung über Aiwangers Flugblatt aus Jugendtagen„.

„Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben.“ So eröffnete die Süddeutsche Zeitung am Freitagabend eine Story, die sofort von Medien im ganzen Land aufgegriffen wurde. Ein antisemitischer Spitzenpolitiker oder zumindest einer mit antisemitischer Vergangenheit – diesem Thema kann sich kein Medium entziehen. Doch, Moment mal: Was wissen wir eigentlich über den Fall und reicht das, was die SZ vorgetragen hat, aus, um eine solche Welle der Berichterstattung zu rechtfertigen? Denn immerhin gab es zunächst keinen einzigen Beweis – es war reine Verdachtsberichterstattung mit Indizien und anonymen Zeugen.

Doch die Empörung ist riesig, schon nach den ersten Veröffentlichungen werden Rücktrittsforderungen laut. Dass Hubert Aiwanger zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt wohl erst 16 Jahre alt war, wird weggewischt. Als „Jugendsünde“ wollen ihm die meisten Medien selbst den Besitz des Flugblatts nicht durchgehen lassen. Doch welche Maßstäbe werden hier angelegt, zum Beispiel für das Alter, ab dem jemand auch Jahrzehnte später noch öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden darf? Die Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, stand vor zwei Jahren im Medienfeuer, weil sie als 14-jährige Gewaltfantasien gepostet hatte. Ein Zitat: „Ich werde dich finden, und anspucken, dann aufhängen mit einem Messer anstupsen und bluten lassen.” Ihr wurde verziehen. Aber nach welchem Maßstab?

Obwohl es im Fall Aiwanger zunächst nur Verdächtigungen gab, wurde die Unschuldsvermutung mit Füßen getreten. Was, wenn sich die Vorwürfe als falsch herausstellen? Wie darf, soll, muss es dann mit Aiwanger weitergehen? Wird es eine selbstkritische Aufarbeitung der Medien geben – oder wird es so enden wie im Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff? Der muss 2012 nach einer Flut von Medienberichten über vermeintliche Vorteilsannahme zurücktreten. 2013 wird ein Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet. Es endet 2014 mit Freispruch. Bis heute vermisse ich eine selbstkritische Reflexion von Journalisten über ihre Rolle in diesem Spiel.

Verbrechen verjähren, verurteilte Straftäter kehren nach Verbüßen ihrer Strafe in die Gesellschaft zurück. Aber wie sieht das bei jemandem aus, der nie für eine vorgeworfene Tat vor Gericht stehen wird? Wie kann sich so jemand rehabilitieren, welche Sühne muss er leisten?
Im Fall Aiwanger lauteten die Fragen von der ersten Minute an: Wie müsste er sich verhalten, um Gnade zu erfahren, sollten wesentliche Vorwürfe gegen ihn zutreffend sein? Oder wie ist er von der Öffentlichkeit zu bestrafen? Hatte er je eine Chance zu zeigen, dass ein 35 Jahre altes Flugblatt nicht seine heutige Gesinnung zeigt? Er selbst bezeichnete es am Samstag als „ekelhaft und menschenverachtend“.

Inzwischen wird Aiwanger vorgeworfen, nicht früh genug seinen Bruder als Urheber des Flugblatts geoutet zu haben. Ein Zeugnisverweigerungsrecht wird diesem Angeklagten nicht zugestanden. Er soll stattdessen die Recherchearbeit der Journalisten übernehmen.
Mir geht es hier nicht darum, den Politiker Aiwanger zu verteidigen. Mir geht es um journalistische Standards.

Doch die Medien wirken wie im Jagdfieber. Einen Moment des Innehaltens gab es nicht. Keine Zeit, zunächst harte Fakten zu besorgen und dann anhand allgemeingültiger Kriterien die Relevanz zu prüfen? Das beunruhigt mich von zwei Seiten her: Denn einerseits ist völlig unklar, was als nächstes kommt. Wer oder was wird dann ausgegraben? Und andererseits weiß ich nicht, welche Stories Kollegen zwar recherchiert, aber aus gutem und nachvollziehbarem Grunde nicht verbreitet haben.
Von Aiwangers Flugblatt wussten mehrere Redaktionen. Eine hat sich am Freitag entschieden, mit einem Verdacht an die Öffentlichkeit zu gehen. (Timo Rieg)

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